KOMET Modell - Kombiniertes Modell zur Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen (Sauerborn & Köb 2025)
Zitiervorschlag: Mezger, K. & Kopp, S. (202e). „KOMET Modell - Kombiniertes Modell zur Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen (Sauerborn & Köb 2025)“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:lesen_schreiben:erweitertes_lesen_komet, CC BY-SA 4.0
Das KOMET-Modell schlüsselt den Prozess des Schriftspracherwerbs modellhaft auf und orientiert sich dabei zunächst weitgehend an der Entwicklung eines Kindes ohne Beeinträchtigung in diesem Bereich. Diese Basis wird jedoch benutzt, um auch gezielt auf die besonderen didaktischen Anforderungen von Kindern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen bzw. sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf einzugehen.
Die wesentlichen Aspekte des Modells werden in der folgenden Grafik visualisiert und im Anschluss näher erläutert.
Zitiervorschlag: Grafik „KOMET-Modell des erweiterten Lesens und Schreibens“ nach Sauerborn, H. und Köb, S. (2024). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:lesen_schreiben:erweitertes_lesen_komet, CC BY-SA 4.0
Rahmenaspekte des Modells
Eintauchen in die Buch- und Schriftkultur (Lesesozialisation, Lesemotivation, Anregungsgehalt, etc)
Familiäre und schulische Umweltfaktoren beeinflussen den Schriftspracherwerb stark. Vorlesen, sprachliche Anregung und Unterstützung durch die Eltern fördern den Lernerfolg. In der Schule sind passgenaue Bildungsangebote und eine sprachreiche sowie literarisch anregende Lernumgebung entscheidend.
Individuumsbezogene Faktoren und soziokulturelles Kapital der Familie
Individuumsbezogene Faktoren und soziokulturelles Kapital der Familie beschreiben die Kontextfaktoren und die Körperfunktion lernender Personen, welche einen maßgeblichen Einfluss auf den Erwerb der Schriftsprache haben.
Personbezogene Faktoren wie Motivation, Interesse sowie die gemachten Erfahrungen fördern den Schriftspracherwerb. Umweltfaktoren wie anregende Angebote von Schrift und Geschichten sowie gemeinsame Gespräche tragen entscheidend zum Erwerb der Schriftsprache bei. Ist das soziokulturelle Kapital der Familie dahin gehend nicht ausreichend sind pädagogische Angebote entscheidend.
Körperfunktionen wie Aufmerksamkeit und Vorwissen (kristalline Fähigkeiten) sowie Hörvermögen, Sehfähigkeit und Sprachverarbeitung sind grundlegend für das Erkennen und Verstehen von Lauten und Buchstaben. Beeinträchtigungen, insbesondere in diesen Bereichen, können den Lernprozess erschweren.
Early Literacy
Für den Erwerb von Kompetenzen im Bereich der frühen Literalität sind vielfältige Erfahrungen mit (Schrift-)Sprache von entscheidender Bedeutung. Studien weisen darauf hin, dass bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen das familiäre Umfeld (bezogen auf den Bereich der Literalität) wichtige Impulse hinsichtlich Wortschatz, Wissen über Schrift und Leseverständnis geben kann. Dies gilt es auch für die Planung von Unterricht zu berücksichtigen.
Im Bereich der Preliteracy können zum Beispiel basale Erfahrungen mit Klang und Rhythmus von Sprache durch literarische Formen wie Kindergedichte oder Kinderlieder ermöglicht werden. (vgl. Köb & Terfloth 2024).
Sprachliches Lernen als Rahmen
Alle Bereiche des Modells sind von sprachlichem Lernen eingerahmt, das als dynamischer Prozess lebenslanger Aneignung und Weiterentwicklung von Sprachkompetenz verstanden wird. Sprachliche Bildung findet sowohl formal (in der Schule) als auch nonformal (im Alltag) statt und steht in einer starken Wechselwirkung mit der Entwicklung der schriftsprachlichen Fähigkeiten
Kernbereiche des Modells
Der Kernbereich des Modells unterscheidet vier Hauptkompetenzen: Schriftproduktion, Textproduktion, Leseverstehen und Lesefertigkeiten. Obwohl Lesen und Schreiben getrennt aufgeführt sind, teilen sie eine gemeinsame Basis (wie Phonem-Graphem-Korrespondenzen) und begünstigen sich gegenseitig im Erwerb.
Schriftproduktion
Graphomotorische Kompetenzen
Diese Kompetenzen bilden die Grundlage für Schriftproduktion. Ausgehend von sehr unterschiedlichen graphomotorischen Kompetenzen beim Schuleingang ist die Wahl der Schrift eine wichtige Entscheidung. Nur eine Schrift zu lernen ermöglicht etwa die Grundschrift, welche sich zu einer verbundenen Handschrift ausbauen lässt. Bei körperlichen/kognitiven Beeinträchtigungen können alternative technische Zugänge zur Schriftproduktion eingesetzt werden.
Sprachanalyse
Kinder lernen, Sprache formal, also losgelöst vom Inhalt, zu betrachten, d.h. sie entwickeln phonologische Bewusstheit. Diese beinhaltet im weiteren Sinn die Fähigkeit, Silben wahrzunehmen und Reimwörter zu finden. Die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn, also das Wahrnehmen und Manipulieren einzelner Laute, entwickelt sich primär beim schulischen Schriftspracherwerb.
Phonem-Graphem-Korrespondenz
Die deutsche Schrift ist eine lautorientierte Alphabetschrift, d.h. die Beziehungen zwischen Lauten und Buchstaben sind nicht eindeutig. Neben dem phonographischen Prinzip wirken auch silbische, morphologische und syntaktische Prinzipien.
Die Darstellung der Vokale, nämlich der Unterschied zwischen gesprochener (Lang-/Kurzvokal) und geschriebener Sprache, ist eine Besonderheit, die von Anfang an thematisiert werden sollte.
Orthografie
Die systematische Einsicht in das Schriftsystem und damit auch in die besondere Silbenstruktur mit verschiedenen Vokallängen (offene Silbe, geschlossene Silbe, Reduktionssilbe) ist von Anfang an zentral. Dabei ist die Unterscheidung zwischen regelhaften (erklärbaren) und nicht-regelhaften Schreibungen (Merkwörtern) didaktisches Prinzip.
Textproduktion
Wortschatz
Nicht nur für die Textproduktion, sondern auch in allen anderen Teilbereichen des Schriftspracherwerbs ist der Wortschatz von großer Bedeutung. Mit dem Schuleintritt startet das schulische Wortschatzlernen, das eine breite Erweiterung des Alltagswortschatzes anstößt.
Konzeptionelle Schriftlichkeit
Viele Textsorten erfordern eine „Sprache der Distanz“ mit hoher Informationsdichte und Kompaktheit. Kinder müssen lernen, allein mit sprachlichen Mitteln Bedeutung zu schaffen, ohne auf die Umwelt verweisen zu können.
Verhältnis von Schrift- und Textproduktion
Textproduktion muss nicht an Schriftproduktion gebunden sein – so können alle Kinder an der Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen teilhaben. Es besteht oft eine Diskrepanz zwischen dem, was Kinder ausdrücken möchten (Textproduktion) und dem, was sie aufschreiben können (Schriftproduktion). Durch Diktieren können Kinder bereits von Beginn an bedeutsame Texte verfassen, auch wenn ihre Schreibfertigkeiten noch nicht so weit ausgebildet sind.
Sind Schüler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung noch nicht in der Lage, Schwarzschrift zum Verfassen eigener Texte zu nutzen, ist es dennoch wichtig, die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Textproduktion anzuregen. Dabei können ikonische, symbolische und/oder abstrakte Darstellungen zur Textproduktion genutzt werden. Im Mittelpunkt sollte dabei die Fähigkeit stehen, eigene Gedanken in eine Form zu bringen. Ausgangspunkt können eigene Ideen der Schüler:innen oder die Auswahl eines konkreten Schreibanlasses sein. Förderlich für die Entwicklung eigener Ideen zur Produktion von Texten können Erfahrungen mit Texten sein (z.B. durch Vorlesen oder Hörspiele). Gegenstände, visuelle Darstellungen oder Musik können in diesem Zusammenhang als Hilfe für die Textproduktion dienen (vgl. Köb & Terfloth 2024).
Lesefertigkeiten
Ikone und Symbole lesen
Ausgangspukt für den Schriftspracherwerb ist die symbolische Zugangsweise, bei der Kinder Schrift als bedeutungstragende Struktur erkennen. Symbolische und ikonische Zeichen nehmen eine Brückenfunktion zu basalen Lese- und Schreibfähigkeiten ein. Die Einsicht, dass etwas für etwas anderes steht, ist zentral. Im Unterricht sind sowohl sprachliche Benennung als auch der Umgang mit alltagsnahen Ikonen (z. B. bei Stundenplänen oder durch die Nutzung von Piktogrammen) wichtig. Visual Literacy wird durch den Umgang mit Bildern, Comics, Wimmelbüchern etc. gefördert. Dabei müssen Bilder dekodiert und interpretiert werden und Weltwissen kann parallel gefördert werden.
Der Kompetenzerwerb im Bereich der repräsentationalen Einsichten bedarf bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung einer speziellen Förderung bzw. eines strukturierten Aufbaus dieser Kompetenzen. Entscheidend hierfür ist eine verlässliche und wiederkehrende Bedeutungszuschreibung und die Berücksichtigung des jeweiligen Abstraktionsgrads des (Bild-)Materials. Dieser reicht von naturgetreuen Abbildungen (Fotos) bis hin zu abstrakten Darstellungen (Symbolen). Die im schulischen Alltag genutzten Zeichen (z.B. für die Visualisierung von Stundenplänen oder Beschriftung von Räumen) haben einen starken Lebensweltbezug für die Schüler:innen und sind deshalb von großer Bedeutung. Die Übergänge zwischen transparenten, transluzenten, opaken und abstrakten Darstellungen sind dabei oftmals fließend. Weitere wichtige Anknüpfungspunkte für das schulische Lernen können (altersentsprechende) Darstellungen in Büchern, wie z.B. in Bilderbüchern oder Comics, sein (vgl. Köb & Terfloth 2024).
Graphem-Phonem-Korrespondenz
Die Einführung und Automatisierung der Graphem-Phonem-Korrespondenz bildet die Grundlage für weitere Prozesse. Dabei lesen die Kinder anfangs Silben und kurze Wörter buchstabenweise, d.h. synthetisierend über den indirekter Leseweg. Dies führt zu Wortvorformen, die oft von der tatsächlichen Aussprache abweichen. Außerdem ist der indirekte Leseweg fehleranfällig und langsam.
Silben lesen
Das automatisierte Silben lesen unterstützt den Übergang zur direkten Worterkennung und den Prozess von der Wortvorform zur tatsächlichen Aussprache zu gelangen. Dabei wird die Wichtigkeit der Progression betont. Nach Bredel (2012), ist die offene betonte Silbe mit einem Langvokal leichter zu lesen als die geschlossene betonte Silbe (Kurzvokal) und die unbetonte Reduktionssilbe (Schwa-Laut /ə/). Demnach wird mit offenen Hauptsilben (ta, ra, ha) begonnen, erweitert durch Reduktionssilben und schließlich komplexere Silben mit Anfangsrändern oder Kurzvokalen.
Wortlesen
Das Ziel des frühen Lesens ist der Aufbau eines Sichtwortschatzes auf dem direkten Leseweg, der automatisiert abgerufen werden kann. Der Sichtwortschatz umfasst Wörter, die die Kinder direkt visuell erkennen, z.B. Wörter aus dem Alltag (z. B. STOPP), kurze, häufige Wörter aus dem Unterricht (z. B. ist, mit) sowie Wörter, die automatisiert aus dem orthographischen Lexikon abgerufen werden.
Leseflüssigkeit
Leseflüssigkeit dient als Brückenfunktion zwischen Dekodierung und Verstehen. Sie gilt als Prädiktor für Leseverstehen und entlastet des Arbeitsgedächtnisses durch Automatisierung. Schwierigkeiten bei der Leseflüssigkeit äußern sich in stockendem, fehlerhaftem Lesen mit gestörtem Lesefluss. Geeignete Fördermaßnahmen sind die systematische Erweiterung des Sichtwortschatzes, der Fokus auf genauem Lesen bei häufigen Fehlern sowie die Unterstützung des Verstehensprozesses.
Leseverstehen
Das Leseverstehen hängt zu Beginn vor allem vom Wort- und Satzverstehen sowie der lokalen Kohärenzbildung ab.
Lokale Kohärenz
Die genaue Bedeutung eines Worts ergibt sich durch die Verwendung im Satz sowie die Identifikation, wie die Teile im Satz zusammengehören und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Dazu gehört auch das Verständnis der Besonderheiten im Deutschen wie Verbklammer und Verbendstellung.
Globale Kohärenz
Kinder am Leseanfang sind oft schon durch die grundlegenden Prozesse so beansprucht, dass sie größere Textzusammenhänge kaum verstehen können. Das Verständnis der globalen Kohärenz als höhere Ebenen des Lesens wird erst möglich, wenn die lokale Kohärenzbildung funktioniert.
Literatur
Günther, K-B. (1986). Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Brügelmann, H. (Hrsg.), ABC und Schriftsprache: Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher (32-54). Konstanz: Faude
Köb, S./ Terfloth, K. (2024). Grundlagen des Schriftspracherwerbs aus der Perspektive des sonderpädagogischen Schwerpunkts Geistige Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer
Ratz, C. (2013). Zur aktuellen Diskussion und Relevanz des erweiterten Lesebegriffs. Empirische Sonderpädagogik 4, 343-360.
Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg