Lesen und Schreiben basieren größtenteils auf denselben sprachlichen Repräsentationen und entsprechenden Verarbeitungsprozessen.
Die im Folgenden aufgeführten Modelle nach Coltheart (2-Wege-Modell des Lesens) und Barry (2-Wege-Modell des Schreibens) sind relevant für Kinder und Jugendliche auf der alphabetischen, orthografischen oder integrativ-automatisierten Stufe des Schriftspracherwerbs nach Günther.
Da sich die Entwicklungsstufen nach Günther in erster Linie aber auf den frühen Schriftspracherwerb beziehen und die Modelle von Coltheart und Barry die Wortebene in den Blick nehmen, müssen zu diesen Modellen mit Blick auf die Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz auf Satz- und Textebene weitere Modelle und Theorien herangezogen werden. Wichtig: Das Lesen und Schreiben auf Satz- und Textebene setzt aber keinesfalls erst auf der integrativ-automatisierten Stufe nach Günther ein. Erste Texte können von Kindern selbstverständlich bereits auch auf der alphabetischen oder orthografischen Stufe erlesen oder verfasst werden.
Für Kinder und Jugendliche auf der präliteral-symbolischen bzw. logographemischen Stufe sind die unten aufgeführten Modelle von Coltheart und Barry noch nicht relevant, da es sich bei diesen beiden Entwicklungsstufen noch nicht um Lesen und Schreiben „im engeren Sinne“ handelt (keine Graphem-Phonem-Zuordnung). Die für diese Entwicklungsstufen relevanten Modelle sind ausführlich im Zweig Bilder, Ikonische Zeichen und Symbole dargestellt: Theoretischen Grundlagen zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff
Zu Beginn des Leseprozesses ist die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Aufnahme von auf das Lesen bezogenen Informationen relevant (vgl. Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley). Beispielsweise könnten die grundsätzliche Bereitschaft, die Befriedigung relevanter Grundbedürfnisse, die Körperspannung, die Blickrichtung und die Präsenz Indikatoren darstellen. (vgl. Lurija Block I: Aufrechterhaltung von Wachheit)
Beim Wortlesen erfolgt zunächst die Analyse der visuellen Eigenschaften der einzelnen Schriftzeichen einer Texteinheit (Was sehe ich?) und eine Aktivierung von Buchstabeneinheiten (Aus welchen Buchstaben besteht das Wort?). Das Modell unterscheidet dann eine lexikalische und nicht-lexikalische Verarbeitungsroute, wobei innerhalb der lexikalischen Route entweder eine semantische Dekodierung stattfindet oder nicht.
In der nicht-lexikalischen Route (Ich kenne das Wort nicht!), oft auch phonologische Route genannt, erfahren die Grapheme von links nach rechts, entsprechend der erlernten Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln eine Übersetzung in Phoneme (Welcher Buchstabe ergibt welchen Laut?). Im Phonemsystem wird die Aussprache generiert (Wie spreche ich die Laute aus? z. B. ie).
In der lexikalischen Route, oft auch direkte Route genannt, wird eine gespeicherte Wortrepräsentation im orthographischen Lexikon aktiviert. Es wird erkannt, dass es sich um ein bekanntes Wort handelt (Ich kenne das Wort!).
Die entsprechende Aussprache ist im phonologischen Lexikon gespeichert (Ich weiß, aus welchen Lauten sich das Wort zusammensetzt!) und wird über einen Abgleich mit dem Phonemsystem generiert (Ich weiß, wie ich die Laute aussprechen muss!).
Die Aktivierung des phonologischen Lexikons kann auch über das semantische System erfolgen, in welchem die Bedeutung eines Wortes gespeichert ist (Ich weiß, was das Wort bezeichnet!). (vgl. Luria Block II - Einheit zur Informationscodierung und –speicherung.)
Zu Beginn des Schreibprozesses ist die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Aufnahme von auf das Schreiben bezogenen Informationen relevant (vgl. Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley). Beispielsweise könnten die grundsätzliche Bereitschaft, die Befriedigung relevanter Grundbedürfnisse, die Körperspannung, die Blickrichtung und die Präsenz Indikatoren darstellen. (vgl. Lurija Block I: Aufrechterhaltung von Wachheit)
Beim Schreiben erfolgt nach der akustisch-auditiven Analyse (Was höre ich?) des eingehenden akustischen Signals eine parallele Ansteuerung der nicht-lexikalischen und lexikalischen Route.
In der nicht-lexikalischen Route aktiviert die akustische Analyse direkt die dazugehörigen Phoneme und speichert diese im phonologischen Buffer, der allerdings auch Informationen aus dem phonologischen Lexikon der lexikalischen Route erhalten kann. Über die Phonem-Graphem-Umwandlung erfolgt die Übersetzung in Grapheme, die dann im Graphembuffer für das Niederschreiben gespeichert werden.
Die lexikalische Route führt ausgehend vom auditiven Lexikon entweder a) über das phonologische Lexikon (Ich weiß, aus welchen Lauten sich das Wort zusammensetzt!) oder b) direkt zum orthographischen Lexikon (Ich kenne das Wort und die Schreibung!).
Um den Schreibvorgang zu realisieren, muss die orthographische Einheit zunächst in Grapheme segmentiert werden, die dann im Graphembuffer gespeichert werden.
Den beiden modalitätsspezifischen Kurzzeitspeichern (phonologischer Buffer und Graphembuffer) kommt eine herausragende Rolle zu, da sie Informationen aus beiden Routen erhalten können. (vgl. Lurija Block II - Einheit zur Informationscodierung und –speicherung.)
Die Leseentwicklung soll im Folgenden mit Blick auf die Satz- und Textebene unter Einbezug weiterer Schreibkompetenz-Modelle präzisiert und erweitert werden.
Die weitere Entwicklung der Lesekompetenz ist im Bereich der Lesetechnik in erster Linie durch eine Zunahme der Lesegeschwindigkeit gekennzeichnet. Der bedeutsame Einfluss der Lesegeschwindigkeit auf das sinnentnehmende Lesen auf Textebene nimmt in der Sekundarstufe ab (vgl. Mayer 2018).
Die Leseverwendung entwickelt sich von der Stufe „Wort- und Satzidentifikation auf Textebene“ über das „Elementare Lesen auf Textebene (lokale Kohärenz)“ zum „Komplexen Lesen auf Textebene (globale Kohärenz).
Die Schüler:innen lesen auf dieser Stufe einfache Texte. Dabei können sie den Sinn einzelner Wörter oder einzelner Sätze verstehen und dem Text isolierte Einzelinformationen entnehmen. Sie können allerdings nicht den Sinnzusammenhang mehrerer Sätze miteinander verknüpfen.
Die Schüler:innen können mehrere Sätze inhaltlich miteinander verknüpfen und können Zusammenhänge herstellen (Lokale Kohärenz). Der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden.
Die Schüler:innen können die Gesamtaussage des Textes erfassen, nicht explizit im Text gegebene Informationen erschließen (Inferenzen), Schlussfolgerungen ziehen und über den Text reflektieren. Sie können dabei zunehmend mit relativ auffällig konkurrierenden Informationen umgehen. Durch den Bezug zum eigenen Welt- und Sprachwissen wird die Textaussage erschlossen und so verarbeitet, dass das neue Wissen angewendet und transferiert werden kann. Im Hinblick auf Inhalt und Form können zunehmend unvertraute, inhaltlich komplexere und längere Texte bearbeitet werden.
Die Entwicklung der Lesetechnik und der Leseverwendung auf Textebene ist maßgeblich abhängig von bestimmten Körperfunktionen und Kontextfaktoren.
Den kristallinen Fähigkeiten (Weltwissen, Sprachwissen und Strategiewissen) kommt hierbei eine herausragende Bedeutung zu. Das Sprachwissen setzt sich aus Wortschatz (Lexikalische Fähigkeiten) und dem Wissen um grammatikalische Strukturen (syntaktisch-morphologische Fähigkeiten) zusammen. Strategiewissen meint das Wissen um Lesestrategien, wie aus unterschiedlichen Textsorten Informationen entnommen werden können. Die Aufmerksamkeit, das Kurzzeitgedächtnis sowie der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis spielen selbstverständlich nach wie vor eine Rolle. Mit Zunahme der Text-Komplexität kommt dem fluiden Denken (Schlussfolgern, Bilden von Inferenzen und Überwachen des eigenen Verständnisprozesses) eine wachsende Bedeutung zu.
Bei den Kontextfaktoren sind die Motivation, das Selbstkonzept des Lesers, die schulische und außerschulische Lernumgebung sowie die Versorgung mit Hilfsmittel gleichermaßen bedeutsam.
Die Schreibentwicklung soll im Folgenden mit Blick auf die Satz- und Textebene unter Einbezug weiterer Schreibkompetenz-Modelle präzisiert und erweitert werden.
Die weitere Entwicklung der Schreibkompetenz ist mit Blick auf die Schreibtechnik in erster Linie durch eine Zunahme der Schreibgeschwindigkeit und die zunehmende Beachtung des orthographischen Regelwissens gekennzeichnet.
Die Entwicklung der Schreibverwendung kann in assoziatives Schreiben, leserbezogenes (adressatenbezogenes) Schreiben und kritisches Schreiben unterschieden werden.
Beim assoziativen Schreiben werden Ideen entwickelt und flüssig aufgeschrieben. Hier findet weder adressatenorientiertes Schreiben noch Planung oder Reflexion des Geschriebenen statt. Der Schreiber schreibt unvermittelt alles, was ihm einfällt, ohne langes Nachdenken oder Überlegen so lange auf, bis ihm nichts mehr in den Sinn kommt.
Beim leser:innenbezogenen (adressat:innenenbezogenen) Schreiben gewinnt die Textkohärenz (inhaltlich-logischer Aufbau, roter Faden) und die Textkohäsion (korrekte sprachliche Umsetzung, gekennzeichnet durch Verwendung korrekter Grammatik und eines adäquaten Wortschatzes) an Bedeutung. Auf dieser Stufe spielt die Fähigkeit zur Perspektivübernahme (Theory of mind) eine besondere Rolle.
Beim kritischen Schreiben geht es um die selbstkritische Überprüfung des eigenen Textes gemessen an Maßstäben, die der Schreiber selbst entwickelt oder die ihm von außen auf inhaltlicher, sprachlicher und formaler Ebene als Kriterien vorgegeben werden. Der Schreiber entwickelt hier einen ganz persönlichen Stil und verfeinert kontinuierlich die eigene Art zu Schreiben. Es werden nicht mehr nur für einen Adressaten Sätze oder Texte verfasst, sie können auch für sich selbst aus reiner Freude am Schreiben entstehen.
Die Entwicklung der Schreibtechnik und der Schreibverwendung ist maßgeblich von bestimmten Körperfunktionen und Kontextfaktoren abhängig.
Den kristallinen Fähigkeiten (Weltwissen, Sprachwissen und Strategiewissen) sowie dem Fluiden Denken und Problemlösen (Überprüfung orthographischer, lexikalischer und grammatikalischer Korrektheit, Überwachen und reflektieren des Produktionsprozesses und der Leserorientierung) kommt hierbei eine herausragende Bedeutung zu.
Bei den Kontextfaktoren sind die Motivation, das Selbstkonzept des Schreibers, die schulische und außerschulische Lernumgebung sowie die Versorgung mit Hilfsmittel gleichermaßen bedeutsam.
Das Vierfelder-Modell des Schriftspracherwerbs (nach Reber) berücksichtigt beim Lesen und Schreiben sowohl den kommunikativen als auch den technischen Aspekt. Das Vierfelder-Modell bietet somit die Möglichkeit, die Lese- und Schreibkompetenzen eines Kindes strukturiert abzubilden. Die in der folgenden Abbildung aufgeführten sprachlichen Bereiche (Pragmatik, Wortschatz, Grammatik, Phonologie) nehmen auf die unterschiedlichen Felder (Schreibverwendung, Leseverwendung, Schreibtechnik, Lesetechnik) Einfluss. In ihrer Interaktion sind sie Basis für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb
In der folgenden Abbildung sind am Beispiel der Orthographischen Stufe den 4 Feldern die für diese Entwicklungsstufe relevanten Aktivitäten zugeordnet:
Schreibverwendung (Kommunikatives Schreiben)
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Leseverwendung (Sinnerfassendes Lesen)
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Schreibtechnik (Richtig schreiben)
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Lesetechnik (Automatisiertes Lesen)
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Albrecht, C. (2016). Vierfelder-Modell mit Aktivitäten (orthografische Stufe)
Welche Körperfunktionen haben besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz?
Neben den für das Lesen und Schreiben grundlegenden Sinnesfunktionen Hören und Sehen sind bezugnehmend auf das Modell der phonologischen Informationsverarbeitung (vgl. Steinbrink & Lachmann 2009) sowie Befunde aus der empirischen Forschung (vgl. Renner & Mickley 2015) folgende mentale Funktionen (CHC-Faktoren) für die Entwicklung von Lese- und Schreibkompetenzen von zentraler Bedeutung:
Welche Kontextfaktoren haben besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz?
Kontextfaktoren sind alle Gegebenheiten des Lebenshintergrundes einer Person. Sie können die Aktivität und Teilhabe eines Menschen positiv oder negativ beeinflussen. Kontextfaktoren sind gegliedert in:
Personbezogene Faktoren sind bestimmte Eigenschaften, Lebensgewohnheiten und Einstellungen einer Person. In Bezug auf Lesen und Schreiben können in diesem Zusammenhang folgende Fragestellungen relevant sein:
Umweltfaktoren, die sich gleichermaßen auf schulische und außerschulische Kontexte beziehen, lassen sich in folgende vier Kategorien untergliedern:
In Bezug auf Lesen und Schreiben können folgende Fragestellungen (aufgezeigt am Beispiel der orthographischen Stufe) besonders relevant sein:
Unterstützung und Beziehungen:
Einstellungen:
Lernumgebung:
Hilfsmittel:
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen einzelnen Aktivitätsbereichen?
Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aktivitätsbereichen im Bereich Lesen und Schreiben können sowohl zwischen Lesen und Schreiben (Schrittmacherfunktionen), als auch innerhalb der einzelnen Aktivitätsbereiche, z. B. dem Lesen, bestehen. Hat ein Kind oder Jugendlicher beispielsweise Schwierigkeiten im Sinnentnehmenden Lesen (Leseverwendung) könnt es daran liegen, dass das Kind oder der Jugendliche durch die Nutzung des indirekten Lesewegs (Lesetechnik) sprachliche Informationen unzureichend aufrecht erhalten kann. Dies ist die Voraussetzung für den Abgleich mit dem Langzeitgedächtnis.
Bachmann, T. & Becker-Mrotzek, M. (2016). Schreibkompetenz und Textproduktion modellieren. In: Becker-Mrotzek, M. & Grabowski, J. et al (Hrsg.) Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Waxmann: Münster
Becker-Mrotzek, M. & Schindler, K. (2007). Schreibkompetenz modellieren. In: Becker- Mrotzek, M. & Schindler, K. (Hrsg.) Texte Schreiben (S. 7–26). Gilles & Francke: Köln
Bereiter, C. (1980). Development in Writing. In: Gregg, Lee W.; Steinberg, Erwin R.: Cognitive processes in writing. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates, 1980
Kannengießer, S. (2015). Sprachentwicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik und Therapie. Urban & Fischer: München Lenhard, W. & Lenhard, A. et al (2017). ELFE II. Ein Leseverständnistest für Erst- bis Siebtklässler-Version II. Hogrefe Verlag: Göttingen
Mayer, A. (2018). Die Lesetricks von Professor Neugier – ein strategieorientiertes Konzept zur Förderung des Textverständnisses. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis, 3/18
Rosebrock, C. & Nix, D. (2008). Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Schneider Verlag: Hohengehren
Reber, K. (2017) Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen im Unterricht. Systematischer Schriftspracherwerb von Anfang an. Ernst Reinhardt Verlag: München Basel
Reber, K. (2017). Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen im Unterricht. Systematischer Schriftspracherwerb von Anfang an. Ernst Reinhardt Verlag: München Basel
Renner, G. & Mickley, M. & (2015). Intelligenzdiagnostik im Vorschulalter. CHC- theoretisch fundierte Untersuchungsplanung und Cross-battery-assessment. In: Frühförderung interdisziplinär 34, 67–82
Steinbrink, C. & Lachmann, T. (2014). Lese-Rechtschreibstörung. Berlin/Heidelberg: Springer VS.
Wedel-Wolff von, A. (1997). Üben im Leseunterricht der Grundschule. Westermann: Braunschweig