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wsd:selbststaendiges_leben:theorien:entwicklung_selbststaendigkeit

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Entwicklung kindlicher Selbstständigkeit

Zitiervorschlag: Stähle, A./ Schulte, T. (2025). „Entwicklung kindlicher Selbstständigkeit“. Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:selbststaendiges_leben:theorien:entwicklung_selbststaendigkeit

Die Entwicklung kindlicher Selbstständigkeit ist ein vielschichtiger Prozess, der von persönlichen Voraussetzungen, sozialen Beziehungen und den Bedingungen der Umwelt beeinflusst wird. Schon in den ersten Lebensjahren zeigen Kinder den Wunsch, Dinge selbst zu tun, eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Dieses Bedürfnis ist Ausdruck ihrer Entwicklung und eng verknüpft mit dem Erleben von Selbstwirksamkeit, Identität und sozialer Handlungsfähigkeit. Eltern, pädagogische Fachkräfte und andere Bezugspersonen begleiten diesen Weg, indem sie Räume zum Ausprobieren schaffen, Sicherheit geben und die Eigenständigkeit des Kindes ernst nehmen (vgl. Bowlby, 2024).

Selbstständigkeit lässt sich allerdings nicht als konkretes Erziehungsziel „benennen“. Selbstständigkeit wird als Kompetenz vielmehr aus günstigen Rahmenbedingungen, verlässlichen Beziehungen und Gelegenheiten zur Mitbestimmung erwor-ben. Dabei gilt es stets, die individuellen Möglichkeiten und Grenzen eines Kindes im Blick zu behalten.

Bindung als Entwicklungsbasis

Kinder, die sich sicher gebunden fühlen, trauen sich zu, ihre Umwelt selbst zu erkunden. Die Bindungstheorie beschreibt das Wechselspiel zwischen Bindungs- und Explorationssystem: Ein Kind, das sich emotional getragen weiß, ist bereit, Neues zu wagen (vgl. Bowlby, 2024). Durch wiederholte Interaktionen mit Bezugspersonen entstehen sogenannte innere Arbeitsmodelle – also Vorstellungen davon, wie Beziehungen funktionieren und wie man selbst in der Welt steht. Diese inneren Bilder prägen das Selbstwertgefühl und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Gerade bei Kindern mit Behinderungen sind solche Erfahrungen oft besonders herausfordernd und voraussetzungsreich (vgl. Klauß, 2012). Eine Haltung, die Ressourcen in den Mittelpunkt stellt und individuelle Entwicklungswege achtet, ist hier entscheidend.

Ich-Entwicklung und Selbstkonzept

Schon im zweiten Lebensjahr beginnt das Kind zu begreifen, dass es ein eigenes „Ich“ ist – handelnd, wirksam, unterscheidbar von anderen. Es erlebt: „Ich kann etwas bewirken.“ Damit legt es den Grundstein für sein Selbstwirksamkeitserleben. Zwischen drei und fünf Jahren wird dieses Selbstbild differenzierter. Kinder vergleichen sich mit anderen, erkennen Stärken und Schwächen und beginnen, über ihr Verhalten nachzudenken. Rückmeldungen von Erwachsenen wirken in dieser Zeit besonders prägend. Eine unterstützende, bewertungsfreie Begleitung stärkt ist we-sentlich um das Selbstwertgefühl zu fördern.

Mit dem Schuleintritt weiten sich die sozialen Bezüge aus. Kinder lernen, ihre Sichtweise mit der anderer abzugleichen und sich in sozialen Rollen zu orientieren – eine Entwicklungsaufgabe, die Erikson (1973) als zentral für diese Phase beschreibt.

Innere und äußere Dimensionen von Selbstständigkeit

In der Praxis wird häufig zwischen innerer und äußerer Selbstständigkeit unterschieden. Die innere Dimension betrifft das Erleben von Autonomie und Selbstvertrauen, die äußere zeigt sich im beobachtbaren Handeln – etwa beim selbstständi-gen Anziehen oder Organisieren von Aufgaben. Beide Ebenen hängen eng zusammen und sollten gemeinsam betrachtet werden. Driescher (2007) betont, dass Kinder je nach Kontext unterschiedliche Grade an Selbstständigkeit zeigen können. Ein Kind, das zu Hause noch Unterstützung braucht, kann in der Kita bereits erstaunlich selbstorganisiert agieren. Pädagogisches Handeln sollte daher individuell ansetzen und nicht auf standardisierte Leistungsmaßstäbe verengt werden. Gerade bei Kindern mit Behinderung besteht die Gefahr, ihnen zu wenig zuzutrauen – oder sie zu stark zu entlasten. Entscheidend ist eine Förderung, die Eigeninitiative ernst nimmt und unterstützende Maßnahmen passgenau integriert.

Selbstständigkeit als Entwicklungsaufgabe im Bildungskontext

Nach Reinders (2002) gehört die Entwicklung von Selbstständigkeit zu den grundlegenden Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter. In der frühen Kindheit stehen dabei basale Selbstversorgungskompetenzen im Vordergrund. Später kommen Aspekte wie Verantwortungsübernahme, Entscheidungsfähigkeit und soziale Flexibilität hinzu.

Der schulische Rahmen kann diesen Prozess sowohl fördern als auch hemmen. Wölfl (2022) beschreibt eine „sensible Schule“ als Lernort, der die Unterschiedlichkeit der Kinder wahrnimmt und Lerngelegenheiten individuell gestaltet. Eine inklusive Didaktik ermöglicht, dass jedes Kind – mit und ohne Behinderung – Lernerfahrungen macht und Selbstständigkeit im Rahmen seiner Möglichkeit entfaltet.

Strukturmodell zur frühkindlichen Selbstständigkeit

Butzmann (2021) hat für die frühpädagogische Ausbildung ein Modell entwickelt, das die Entwicklung von Selbstständigkeit in drei Phasen beschreibt:

  1. Unbewusste Selbstständigkeit (0–3 Jahre): Kinder sammeln erste Selbstwirksamkeitserfahrungen über Bewegung, Spiel und Exploration. Sicherheit durch verlässliche Bindungspersonen ist dabei zentral.
  2. Bewusstwerdung (4–5 Jahre): Kinder beginnen, ihr Handeln bewusst zu steuern, vergleichen sich mit anderen und fordern Autonomie ein.
  3. Reflexion und Rückmeldung (ab 6 Jahren): Kinder setzen sich mit ihren Fähigkeiten auseinander und beziehen soziale Rückmeldungen in ihr Selbstbild ein.

Zitiervorschlag: Grafik „Entwicklung zu Selbstständigkeit aus eigenem Antrieb“ von Stähle, A./Schulte, T. (2025) in Anlehnung an Butzmann, E. (2021). Abgerufen von URL: https://wsd-bw.de/doku.php?id=wsd:selbststaendiges_leben:theorien:entwicklung_selbststaendigkeit


Literatur

Lamers,W./ Musenberg, O./ Sansour, S. (Hrsg.) (2021). Qualitätsoffensive - Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung. Grundlagen für die Arbeit in Praxis, Aus- und Weiterbildung. Bielefeld: Athena.

Lindmeier, B./ Lindmeier, C. (2012). Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Band 1: Grundlagen. Stuttgart: Kohlhammer.

Lindmeier, B./Meyer, D.(2020). Empowerment, Selbstbestimmung, Teilhabe – Politische Begriffe und ihre Bedeutung für die inklusive politische Bildung. S.38-56 in: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.). Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung.Bonn

Klauß, T. (2007). Selbstbestimmung als Leitidee der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung. Abgerufen von: https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/wp/klauss/Selbstbestimmung.pdf (04.11.2024)

Weingärtner, C. (2013). Schwer geistig behindert und selbstbestimmt. Eine Orientierung für die Praxis. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Weiß, H. (2000). Selbstbestimmung und Empowerment. Kritische Anmerkungen zu ihrer oftmaligen Gleichsetzung im sonderpädagogischen Diskurs. In: Färber, H.P./ Lipps, W./ Seyfarth, T. (Hrsg.). Wege zum selbstbestimmten Leben trotz Behinderung. Tübingen: Attempto, 119–143.


Layout und Gestaltung: Christian Albrecht, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg

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